Thomas Seerig: Zeit des Nationalsozialismus forderte viele Opfer bei Menschen mit Behinderungen
Thomas Seerig (FDP) gehörte sowohl von 1990 bis 1995 als auch von 2016 bis Herbst 2021 dem Berliner Abgeordnetenhaus an. Der studierte Diplom-Kaufmann aus dem Bezirk Steglitz-Zehlendorf ist im Management eines Trägers der Jugendarbeit tätig. Er ist verheiratet und Vater eines Sohnes. In seiner letzten Wahlperiode war er als einziger Vertreter der FDP Mitglied des Präsidiums. Zugleich war er Sprecher seiner Fraktion für Mitbürger mit Handicap. Thomas Seerig ist Vorsitzender der FDP Steglitz.
Wir sprachen mit dem Liberalen.
STIMME-DER-HAUPTSTADT: ZumEnde des Zweiten Weltkriegs in Europa, am 8. Mai, erinnert die Politik sehr oft an die zahlreichen Opfer der grausamen NS-Politik. Täuscht mein Eindruck: Die Ermordung von Menschen mit Handicap wird kaum oder nur am Rande erwähnt bei vielen Veranstaltungen?
Thomas Seerig: „Die Zeit des Nationalsozialismus forderte ihre Opfer nicht nur unter Juden, Sintis und Zeugen Jehovas oder Kommunisten, Schwulen und Demokraten, sondern auch gerade bei Menschen mit Behinderungen.
Diese Gruppe widersprach dem rassischen Ideal von Stärke, Mut und Kraft; obwohl Propagandaminister Goebbels selbst ein Handicap hatte. Daher wurde ermordet, was nicht dem Ideal Blond, Blauäugig und Kriegsverwendungsfähig entsprach und somit das Wunschbild der Herren störte. Besonders perfide ging man gegen erbliche Leiden vor. Um das „Erbgut der Rasse“ rein zu erhalten, wurden die „Träger unwerten Lebens“ zwangssterilisiert.
Allein dieser Gräuel fielen mindestens 15.000 Menschen in Deutschland zum Opfer.
Die gezielte Ermordung von behinderten Menschen wurde gerade in den zeitweise eroberten Gebieten Osteuropas besonders konsequent durchgeführt, da sich hier die vermeintliche Minderwertigkeit der Rasse und der Behinderung quasi potenzierten. Dabei ist der Nationalsozialismus ein besonders abschreckendes Beispiel, aber nicht der einzige Fall des Umgangs von diktatorischen Regimen mit Diversität – wer nicht aktiv am Aufbau des Kommunismus, der Reinheit der Rasse teilnehmen kann oder offensichtlich vom Schicksal / Gott gestraft ist, darf allenfalls am Rande der Gesellschaft leben. Wenn überhaupt.
Daher zeigt sich der Unterschied zwischen humanen Demokratien und Diktaturen am Umgang mit ihren Mitmenschen mit Handicap besonders deutlich: Das Leben als Behinderter ist in Skandinavien bestimmt besser als in Nordkorea oder Afghanistan“.
STIMME-DER-HAUPTSTADT: Vielen Dank für das Gespräch.
Text: Volker Neef
Foto: Michael Königs