Lichtenberg – Historische Anmerkungen über einen Kiez- 1. Teil
Mathias C. Tank ist Pressesprecher des 1865 gegründeten „Vereins für die Geschichte Berlins e.V.“ Er übt dieses Amt ehrenamtlich aus. Wir sprachen mit ihm.
Stimme-Der-Hauptstadt: Bitte teilen Sie uns etwas über die Historie Lichtenbergs zuerst mit.
Mathias C. Tank: „Lichtenberg hat eine „gute Infrastruktur zum Wohnen und Leben“, heißt es in einer Bezirksbroschüre. Lichtenberg, die ehemalige, seit jeher eng mit der nahen Residenzstadt verbundene und seit 1920 zu Groß-Berlin gehörige Stadtgemeinde bietet jedoch noch wesentlich mehr: eine vielfältige historische Vergangenheit. Und diese rechts und links der heutigen Möllendorff-, Josef-Orlopp- und Herzbergstraße, abseits der Schatten der einstmals modernen DDR-Bauarchitektur, vorzustellen, ist eine spannende Aufgabe. Das Angerdorf Lichtenberg wurde im Mai 1288 erstmals urkundlich erwähnt – es ist also älter als 730 Jahre. Von 1391 bis 1783 war es ein Kämmereidorf Berlins, ab 1907 erhielt Lichtenberg die Stadtrechte.
Stimme-Der-Hauptstadt: Von wo aus beginnen wir den Spaziergang durch Ihren Kiez Lichtenberg?
Mathias C. Tank: „Beginnen wir den Streifzug durch den Kiez Alt-Lichtenberg oben auf dem S-Bahnsteig Frankfurter Allee. Eigentlich dürfte man ihn nicht erwähnen, gehört er doch gebietsmäßig zu Friedrichshain. Aber weil damals auch viele Lichtenberger am Rande des Nachbarbezirks arbeiteten, sollte er nicht unerwähnt bleiben: der Containerbahnhof im Osten Berlins. Am 30. Juni 1968 hieß es dort „Fahrt frei für den ersten Containerzug der DDR!“, wie die Berliner Zeitung am Tag darauf stolz über den Großbehälter-Schnellzug von Dresden nach Rostock berichtete. Wöchentlich wurden bis zu 150 Containerzüge abgefertigt, international ging es bis nach Moskau. Das Ende der sozialistischen Planwirtschaft bedeutete für die hiesigen Eisenbahner die Einstellung des erfolgreichen Containerverkehrs. Endgültig geschlossen per 1. Januar 2000 ist vom einstigen Containerbahnhof Frankfurter Allee heute nur noch das grasbewachsene Areal mit Gleisfragmenten erkennbar, ansonsten nichts mehr: keine Portalkräne, kein Stellwerk B2, alles abgetragen in der Zeit von 2019 bis 2020. Die ehemalige Verladefläche ist über die kleine Zufahrtsstraße „Am Containerbahnhof“ zu erreichen.
Stimme-Der-Hauptstadt: Vielen Bürgern, auch außerhalb Berlins, ist die Stalinallee ein Begriff. Dabei wird nicht jeder wissen, dass die Stalinallee einen großen Bezug zu Lichtenberg hat.
Mathias C. Tank: „Heute ist die Stalinallee als Frankfurter Allee bekannt.Von der Ecke Frankfurter Allee, die von 1949 bis 1961 Stalinallee hieß und Möllendorffstraße, zwischenzeitlich Dorfstraße von 1878 bis 1910 genannt worden ist bzw. Jacques-Duclos-Straße von 1976 bis 1992 ragt es dominant in die Höhe: das Lichtenberger rote Rathaus. Von nahem betrachtet erweist es sich als großzügig-repräsentativer, „an die norddeutsche Backsteingotik“ angelehnter Prachtbau mit filigran anmutendem über Eck gestelltem Giebel und kleinem Türmchen. Das mit einer dreieckigen Eingangsfront versehene architektonische Kleinod wurde am 11. November 1898 eingeweiht. Der Bauentwurf soll vom „Gemeindebaumeister“ Franz Emil Knipping stammen. Das zuvor hochumstrittene Bauprojekt forcierte der Amtsvorsteher und Bürgermeister Oskar Ziethen (1858-1932), der populäre „Schöpfer des modernen Lichtenbergs“. Seinen hartnäckigen Eingaben verdankte das Dorf Lichtenberg die Verleihung der Stadtrechte am 4. November 1907. Im Park hinter dem Rathaus gibt es eine ungefähr zwischen den Jahren 1620 und 1720 gepflanzte Eibe zu entdecken. Direkt neben dem dreigeschossigen Rathaus erhebt sich die Schule am Rathaus, eine heutige Integrierte Sekundarschule. Sie befindet sich in der Rathausstraße 8. Im Jahr 1910 als höhere Mädchenschule mit Direktorenwohnhaus eröffnet, wurde sie bereits 1912 in Cecilien-Lyzeum umbenannt. Optischer Star ist der mächtige Treppenturm. Der Skulpturenschmuck im Portalvorbau, bspw. die Frauenfiguren mit Kindern, Harfe und Handarbeiten, weist auf den Zweck des im historisierenden Stil errichteten Bauwerks als „Bildungsanstalt für Mädchen hin. Während der DDR-Zeit wurde hieraus die Polytechnische Oberschule, benannt nach Hans Zoschke (1910 bis 1944), einem Widerstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten.
Kaum bekannt ist, dass sich schräg gegenüber dem Rathaus, in einem zum Wohnhaus umfunktionierten, fünfgeschossigen „Eck-Plattenbau“, nämlich in der Möllendorffstraße 9, die ehemaligen Verwaltungsbüros des größten Bekleidungswerks der DDR befanden. Das ständig expandierende Textilunternehmen VEB Fortschritt, heute erheblich „abgespeckt“ bekannt als Herrenausstatter Becon Berlin, wurde unzensiert in dem DEFA-Film von 1957 „Berlin – Ecke Schönhauser“ kolportiert ein Dialogausschnitt besagt: „Volkspolizist: Was bist Du von Beruf? / Jugendliche: Näherin bei Fortschritt / Volkspolizist: Interessant. Ich habe mir neulich einen Anzug gekauft, da fielen schon nach 14 Tagen die Knöpfe ab.“ VEB Fortschritt exportierte seinerzeit massiv in die „sozialistischen Bruderländer“, aber auch devisenbringend in die ungeliebte BRD.“
Stimme-Der-Hauptstadt: An dieser Stelle machen wir eine kleine Pause bei ihrem interessanten und spannenden Rundgang durch Ihren Kiez Lichtenberg. Verraten Sie uns bitte schon einmal, wie es weitergehen wird.
Mathias C. Tank: „Ihre Leser werden dann von mir zum Theater an der Parkaue sowie Möllendorffschlößchen und Bürgerpark geführt werden“.
Stimme-Der-Hauptstadt: Darauf freuen wir uns schon heute und danken an dieser Stelle für den ersten Teil Ihrer Ausführungen. (Text: Volker Neef/Foto: Mathias C. Tank)