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ART COLLEGE 1994- Berlinale

Art College 1994 von Liu Jian (Foto: © Nezha Bros. Pictures Company Limited, Beijing Modern Sky Culture Development Co., Ltd)

ART COLLEGE 1994- Berlinale

Am 24. Februar fand im Berlinale-Palast eine Welturaufführung statt. In der Kategorie Wettbewerb wurde der chinesische Animationsfilm ART COLLEGE 1994 dem Premierenpublikum gezeigt.

Liu Jian (Foto: © Liu Jian)

Regisseur des fast zwei Stunden langen Films ist Liu Jian. Der 1969 geborene Künstler ist neben seiner Tätigkeit als Filmregisseur auch als Animator bekannt. Liu Jian ist zudem studierter Landschaftsmaler. Bereits 2017 war der Chinese zu Gast bei der Berlinale. Er zeigte, ebenfalls in der Kategorie Wettbewerb, seinen Zeichentrickfilm „Have a Nice Day“.

Seit 2018 ist der Kunstschaffende Mitglied der in Los Angeles ansässigen „Academy of Motion Picture Arts and Sciences“. Die ehrenamtlich tätigen Mitglieder legen fest, wer den begehrten Oscar erhält.  

Der studierte Kunstmaler Liu Jian stellt uns eine Kunsthochschule vor. Es handelt sich dabei um die Chinese Southern Academy of Arts. In seinem Animationsfilm versetzt der Regisseur das Publikum ins Jahr 1994, daher auch die Betonung auf 1994 im Filmtitel. Die jungen Studentinnen und Studenten kommen aus dem ganzen Riesenreich an die renommierte Kunsthochschule. Gerade bei den Studentinnen und Studenten, die aus kleinen Dörfern des Riesenreiches kommen, herrscht noch das traditionsreiche Denken vor. Malerei in China, egal, ob der Kaiser das Reich regiert oder der Genosse Mao oder wer auch immer, hat Tuschmalerei zu sein. So sehen es auch die Dozenten. Picasso, Chagall, Gauguin stellten für Europäer und Amerikaner Kunstwerke her. Ein „anständiger Chinese“ interessiert sich nicht für diesen Unsinn. Einige Studierende aber wollen sich nicht damit abfinden, dass „von ganz oben“ angeordnet wird, wie Kunst zu sein habe. Tradition kann sein, so deren Credo, muss aber nicht sein! Moderne Kunst hat auch ihren Reiz. Immerhin sind moderne Maler außerhalb Chinas hochangesehen und deren Kunstwerke machen die Besitzer beim Verkauf zu Superreichen. So mancher Nachwuchsmaler aus der Provinz, der in der Großstadt angekommen ist, lernt neben der Kunsthochschule auch das süße Leben, vor allen Dingen das aufregende Nachtleben, der Großstadtmetropole, kennen. Da gibt es Karaokebars, Bierbars und Etablissements, in die „ein guter Chinese“ niemals seinen Fuß reinsetzen sollte. Nicht nur das Interesse so mancher Studierender für diese Art von Freizeitgestaltung stößt den Professoren sauer auf. Eine Studentin verdient sich sogar Geld dazu, indem sie abends in einer Bar Lieder singt. 

Die staatlich kontrollierten Dozenten, die oft wirken, als seien sie Kulturwächter, sehen es als Landesverrat an, wenn sich die jungen, angehenden Kunstmaler dem Einfluss westlicher Avantgarden hingeben. Umstürze etwa 1994 im Reich der Mitte? Nicht jeder Student will mit traditionellen Tuschbildern sein Studium beginnen und beenden. 

Man muss bei Liu Jian in seinem Animationsfilm die unausgesprochene Kritik am Kulturland China Anno Domini 1994 heraussehen. Nicht jede Kritik erfolgt mit dem Wink mit dem Zaunpfahl! Eine „Frau Professor“ scheint es 1994 noch nicht gegeben zu haben an der Kunsthochschule. Man sieht im Animationsfilm Frauen, die als Sekretärin oder Telefonistin an der Uni arbeiten. Der ein oder andere Student rennt mit einem schrecklichen Walkman herum. Statt traditionsreicher Musik „Made in China“ hören doch tatsächlich einige Studenten neumodische Songs „Made in Japan“ und „Made in USA“. Diese Musik ist nach Meinung der Dozenten genauso pervers wie westliche avantgardistische Malerei. Ein Student hat sich doch sogar in eine blonde Austauschstudentin aus San Francisco verknallt. Ein Beweis für die Dozenten, dass sie noch mehr über Moral predigen müssen. Liu Jian lässt es in seinem Film nicht aussprechen, aber gerade der deutsche Zuschauer, der eine schreckliche Historie zu tragen hat, meint das Wort „Entartete Kunst“ steht auf dem chinesischen Campus in dicken Lettern geschrieben. Ein „anständiger Chinese“ hört keine westliche Musik. Er hat auch keine langen Haare! Nicht von ungefähr sieht man in dem Film einen Friseur bei seiner Arbeit. Männlicher Student zu sein bedeutet militärischen Haarschnitt zu tragen!

Dann kam 1994 noch für die altbackenen, im Kommunismus großgewordenen Lehrkräfte ein Faktor hinzu, der zuvor gar keine Bedeutung gehabt hatte! Es ist der Faktor Mammon. Da verdienen sich die Studenten das ein oder andere Sümmchen Bargeld als Sänger in einer Nachtbar hinzu oder sie sind nicht als Kunstmaler in ihrer Freizeit aktiv, sondern als gutbezahlte Plakat- und Werbemaler. Man hat ab 1994 begriffen: Kunst ist auch Business! 

Ein Student hat private Kontakte zum Erzfeind! Die beißende Kritik des Liu Jian setzt sich auch hier fort. Ein Kunsthändler kommt aus der „abtrünnigen Provinz Taiwan“ angereist. Er sucht an der in der Volksrepublik China gelegenen Kunsthochschule Studentinnen und Studenten auf. Für gute Kunstwerke zückt er großzügig seine Brieftasche. Der Bekannte des Gastes aus Taiwan hat eine revolutionäre Idee parat! Ja, er werde sein Studium an der Kunsthochschule erfolgreich zu Ende bringen. Er will aber nicht als Kunstmaler von staatlichen Aufträgen, wo er Jubelposen von Parteibonzen malen soll, leben. Er, der er dann studierter Kunstkenner ist, werde wie sein Bekannter aus Taiwan mit Kunst handeln. Das werde ihn schnell zum reichen und angesehenen Mann machen. 

Man erfährt nicht, ob der damalige Kunststudent Liu Jian in seinem Film viele persönliche Erfahrungen über seine Studienzeit mitgeteilt hat. Das ist auch nicht von entscheidender Bedeutung. Man hat einen beeindruckenden Animationsfilm gesehen, das ist wichtig!

Der immer noch anhaltende Ideologieunterricht durch die Dozenten und der Einzug einer ökonomischen Basis im Kunstbetrieb Chinas waren das herausragende Ereignis 1994 an dem besagten Campus. Heute geht die Kunst nach Brot, auch, oder erst recht, in China. Egal, was die Genossen Marx, Lenin, Mao zur Kunst einst gesagt haben! Es steht nach 1994 im Vordergrund: Was bringt ein Kunstwerk dem Maler und dem Galeristen ein?

Liu Jian liefert mit seinem Animationsfilm Nostalgie, beißende Kritik an Kulturwächtern und macht darauf aufmerksam: Kultur geht seinen eigenen Weg! Staatlich alimentierte Dozenten können notwendige künstlerische Veränderungen maximal hinauszögern. Diese Veränderungen in der Kunst eines Landes, besonders bei seinen Nachwuchskünstlern, kann auch der mit zahlreichen Ehrungen der KP China versehene Dozent nicht aufhalten. Die kommunistischen Dozenten, die erzreaktionären Lehrkräfte, müssen statt dem aufhalten und verbieten von Neuerungen in der Kunst notwenige und dem Zeitgeist geschuldete Veränderungen aushalten und zulassen. 

Die Verantwortlichen der 73. Berlinale können mit Stolz darauf verweisen, ihnen kam die Ehre zuteil, die Weltpremiere von ART COLLEGE 1994 durchzuführen. 

Text: Volker Neef

Foto: © Nezha Bros. Pictures Company Limited, Beijing Modern Sky Culture Development Co., Ltd ; © Liu Jian 

Frank Pfuhl
Frank Pfuhl
SDHB Redaktion Berlin